Ich wandere aus – adiaŭ Eŭropo, xin chào Việt Nam!
Und plötzlich wird aus einer vagen Idee konkrete Realität: Ich wandere tatsächlich nach Vietnam aus, endgültig und vollumfänglich. Später als erhofft und doch auch früher als gedacht. Harter Tobak. Wie es dazu kam, möchtest du nun nicht wissen? Nun, dies geschah folgendermaßen:
Zeit meines Lebens war ich davon getrieben, eine in mir empfundene omnipräsente Leere auszufüllen. Eine Leere, die mir Momente der Ruhe und des Friedens verwehrte und stattdessen Sorgen und Nöte bereitete, mich frösteln und erschaudern ließ und rund 15 Jahre garstige Depression förderte. Weder vermochte ich zu sagen, woher diese Singularität rührte, noch, womit ich sie zu erfüllen hätte. Sie war einfach stets zugegen und nagte unentwegt begierig an meiner Lebensfreude; erpicht darauf, mich vollends zu vertilgen. Sie war ein antipathischer, sensationell treuer Begleiter meiner selbst.
So mancher bedachter wie mitunter auch aktionistisch veranlagter Versuch, jene Leere auszufüllen, scheiterte kläglich. Wechselnde Lebensabschnittspartner*innen und Wohnorte, körperliche Exzesse und Nahtoderfahrungen, disputabele Gedankengänge und Hobbys, substanzielle Wirrungen und Irrungen – sie alle kamen und gingen, ohne die mir innewohnende Leere auch nur annähernd tangieren zu mögen. Diese Leere, dieses boden- und formlose Nichts, diese Raumzeit divergierende Auflösung; sie schien mir in unerreichbarer Ferne zu liegen, präsent, doch bar meines mir zur Verfügung stehenden Wirkungsbereichs. Sie konnte mich jederzeit in ihre erstickende Umarmung locken, doch ward mir selbst weder greif- noch begreifbar; so nah und doch so fern. Und so verwandelte ich mich im Laufe der Jahre in einen ausgewachsenen Profipessimisten und Vollzeitmisanthrop. Ich hasste alles, mich eingeschlossen!
Bis – nun, bis eines glücklichen Abends des noch frisch angebrochenen Jahres 2018, als sich mir im Zuge einer beruflichen Reise nach Vietnam (samt einhergehender Sintflut innigster Erfahrungen und fruchtbarer Impressionen) unverhofft eine erst unscheinbare, doch bei näherer Betrachtung vollwertige Passage zur besagten inneren Leere auftat. Welch wundersame Wendung des Schicksals; erst die Ferne befähigte mich zur Nähe. Vorsichtiger Schritte trat ich an die gähnende Leere heran und wagte einen neugierigen, liebevollen Blick in das pechrabenschwarze Antlitz ihres immateriellen Seins. Und in genau ebendiesem Moment initialer Spontanität, als meine ausgestreckten metaphysischen Fühler souverän und zartfühlend auf ihr doppelplusunentropisches Mark stießen, bewirkte dies Aufeinandertreffen von bloßer irrationaler Existenz und ebenso irrationaler Non-Existenz eine exorbitant gleißende, selbstvernichtende Annihilation – welche diese Leere final vom Antlitz meines verfahrenes Wesens tilgte. Wohl wahr, nach langem Suchen fand ich wohl endlich, wonach mir endlos sehnte, und vermochte doch erst im Augenblicke der spektakulären Erkenntnis zu begreifen, was jenes gefundene Leere-Pendant ist:
Heimat.
Ich hegte ein überwältigend-heimeliges Gefühl des Angekommenseins. Einen warmherzig-emotionalen Sonnenaufgang, der all die ubiquitären schaurigen Schemen und wogenden Waben der Finsternis vertrieb und mir im Geiste eine lichtdurchflutete Landschaft offenbarte, die sogleich unermesslich intim wie wohltuend harmonisch erschien. Eine jauchzende Mische aus Glück, Freude, Zufriedenheit und Erfüllung erwuchs knallbunt blühend in mir. Verplant wie eh und je stolperte ich zufällig in just jene Region auf dieser Welt, welche ich im Innersten meines Herzens kontinuierlich vermisste, die sich bis dato meisterhaft vor meinem Intellekt verbarg und mich ahnungslos ob ihrer Existenz ließ. Es war, als wartete sie seit eh und je schelmisch grinsend auf mich, wissend, dass ich dereinst zurückkäme. Und als wäre ich wiederum ein abhandengekommenes komplettierendes Bestandteil ihrer selbst. Wie ein verlorenes Kind, das Dekaden nach seinem bedauerlichen Verschwinden unvermittelt in die schützende Umfriedung seines trauten Ursprungs zurückfand. Heureka, das Wunderbarste an den Wundern ist, dass sie manchmal wirklich geschehen.
Ich gelangte nach Südostasien. Nach Vietnam. Und war gekommen, um zu bleiben.
Alles fühlte sich vom Moment des ersten Betretens vietnamesischen Bodens vertraut an. Ich verliebte mich. Eingangs nur ideell, doch 2019 sogar ganz reell. Lernte den allgegenwärtigen, chaotischen Wuselfaktor zu lieben, der von einer profan anmutenden und doch harmonischen Ordnung durchzogen ist. Und die Mentalität der Menschen, die in vielen Fällen von gelehrigem Ehrgeiz, kühnem Stolz und kreativem Pragmatismus erfüllt ist. Die gesellschaftlichen Normen und Werte, die von gelebter Akzeptanz, gegenseitigem Respekt und für westliche Verhältnisse konservativ anmutender Zurückhaltung zeugen. Die mit offenkundiger Herzlichkeit und entschiedener Strenge versehenen Wesenszüge der Vietnamesen, die erhobenen Hauptes nach vorne blicken und die jahrhundertelange blutige Vergangenheit ruhen lassen. Ich lernte die facettenreichen Gerüche und Geschmäcker der an jedem Streetfoodstand in jeder Siedlung eigenen Regeln folgenden Küche lieben. Das teils gnadenlos erdrückend-heiße und dann wieder lebensbejahend-sonnige Klima. Und den brausenden Taifun des globalen Wandels, der durch alle Aspekte dieser sozialistischen Republik fegt und Mensch und Umwelt, Gesellschaft und Politik sowie Flora und Fauna gleichermaßen bedroht wie auch mit erquickenden Chancen auf eine gemeinsam beschrittene, bessere Zukunft versieht. Ich liebe Vietnam und liebe in Vietnam.
Nun denn. 2019 neigt sich dem Ende entgegen, und ich kehre diesem Jahrzehnt und Deutschland sowie Europa den Rücken. Ja, ich werde die nun bevorstehenden Zwanzigerjahre vom ersten Tage an von meiner neu gewonnenen Heimat aus bestreiten.
Adiaŭ Eŭropo, xin chào Việt Nam! *
Artikelbild: »Flag of Europe« von »User:Verdy p, User:-xfi-, User:Paddu, User:Nightstallion, User:Funakoshi, User:Jeltz, User:Dbenbenn, User:Zscout370« [Public domain], via Wikimedia Commons und »Flag of Vietnam« [Public domain], via Wikimedia Commons.
* »Adiaŭ Eŭropo« bedeutet »Auf wiedersehen Europa« auf Esperanto und »Xin chào Việt Nam« wiederum »Hallo Vietnam« auf Vietnamesisch.
6 Kommentare
Viel Glück im neuen Leben, mögen all deine Wünsche in Erfüllung gehen und du dort dein Glück finden!
Besten Dank, rujam; ich werde deinem Wunsche Folge leisten!
Ich wünsche dir von Herzen alles erdenkbar gute, du wirst mir fehlen. ❤
Und mir fehlst du bereits jetzt, liebster Tobi aller Zeiten ♥
Doch wir werden uns wiedersehen, davon bin ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überzeugt!
Na das will ich doch auch hoffen. ❤ #Awapando
<3
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