Krony [Extreme Edition]
In der letzten Zeit stritten wir uns vermehrt, mein Partner und ich. Ursachen jener temporären Querelen stellen an und für sich unbedeutsame Nichtigkeiten dar, welche jedoch die benötigte Reibefläche zur Ausführung einer zwischenmenschlichen Eskalation offerieren. Wobei eine feste Definierung unserer Streits schwerfällt; weder ertönen laute Schreie, körperliche Gewalttätigkeiten oder berstende Klänge umhergeworfenen Mobiliars und teuren Nippes. Mitnichten. Unsere Streitigkeiten konzentrieren sich auf gezielt stechende, emotionale Verletzungen. Auf Eiseskälte. Giftige Blicke. Unberechtigte Vorwürfe und Schwarzseherei in jeglicher Hinsicht. Ein beträchtlicher Teil jener kontemporärer Kontroversen wurzelt in unserer gegenwärtig unbefriedigenden Situation. Unbefriedigend hinsichtlich unserer wohnlichen Umgebung denn unserer Sexualität. Mein Mann meinte gar lapidar, jede Faser meines Körpers zeugte von einem verbitterten, zynischen und dauersarkastischen Gemüt. Optisch niedlich, vom Wesen her kindlich, vom Geiste her jedoch durch die eisernen Schmieden des modernen Lebens geformt.
Nun, ich habe wohl in der Tat eine extreme Persönlichkeit inne; dies gebe ich hiermit gerne und frei heraus zu. Mein bisheriges Leben verlief alles andere als in gewohnten, geordneten Bahnen. Ich sage Nein, wenn ein Ja erwartet wird, schwimme weder im noch gegen den Strom, sondern seitlich in unbekannte Gefilde hinaus, empfinde und denke in manchen Belangen geradezu dramatisch anders als von unserer “aufgeklärten” Gesellschaft gewünscht und sehe respektive verstehe Vorgänge in unserer Welt, welche einem Großteil der Mitmenschen entweder verborgen bleiben oder auf blankes Desinteresse stoßen.
An und für sich existiert meine Wenigkeit in einer mit vollem Bewusstsein selbst erschaffenen Außenseitersituation. Auseinandersetzungen beispielsweise liegen für gewöhnlich nicht vor, da meine soziale Ader de facto zu weit weg von anderen Menschen schlägt, um überhaupt erst anecken zu können. Dies ward in früheren Tagen anders gewesen; einst wollte ich verzweifelt in den Genuss des sagenumwobenen “Dazugehörens” gelangen, wurde in meinem Bestreben jedoch in der Gemeinschaft – Schulklassen, Freundeskreise, sonstige soziale Interaktionen – aufgrund meiner Andersartigkeit generell gänzlich ignoriert. Heutigentags lebe ich privat gezielt fernab der wogenden Masse, pflege jedoch eine heiße Glasfaser zur umgangssprachlichen Mitte der Gesellschaft. Ich gehöre dazu, jedoch mit Vorbehalten. Ich lebe die Extreme.
Dem Anschein nach führten vergangene Ereignisse und Erkenntnisse zu eben jenem Krony, welchen ihn dieser Tage darstelle [siehe auch]. Mein niemals ermüdender Wissenshunger schaufelte im Laufe der vergangenen 25 Jahre ungeheure Massen an breit gefächerten Informationen – langläufig “Bildung” genannt – in mein geistiges ich; diese wurden mit Schlagworten versehen, sortiert, in organischen Datenbanken abgelegt und bei bedarf sinnvoll untereinander verknüpft. Die Eigenheit, mich niemals nie mit nur einer einzigen Meinung zufriedenzugeben – selbst wenn sie von meinem eigenen Mann stammt – führte ferne dazu, dass ich beharrlich Vergleichsargumente erörterte, mich in thematisch ähnelnde Bereiche einarbeitete und mir somit über jeden ursprünglichen Leitgedanken ein kolossales Gesamtbild schuf. Mich dürstete nach der Gesamtheit, nicht nur einem Teil seiner selbst. Im einstelligen Alter guckte ich mangels Alternativen tagtäglich Dokumentationen und Nachrichten der Öffentlich-Rechtlichen, verschlang während meiner Teeniephase ganze Bücherregale, Wissensmagazine, Zeitungen und anderweitige Lektüre. Löcherte Lehrer, Fachkräfte und erwachsene Freunde (welche ich aus Mangel gleichaltriger Freunde en masse besaß) rücksichtslos mit teils seichten, teils aber geradezu undurchsichtig tiefgründigen Fragen – und sog letztlich seit Anbeginn meiner Zwanzigerjahre Foren, Wikipedia und andere digital vorliegenden Informationsquellen begierig in mich auf. Ich lernte, die Welt zu verstehen. Lernte, uns Menschen zu verstehen. Die Beweggründe hinter Gier und Hass. Setze eines wirren Puzzles gleich Stück für Stück meiner gewonnenen Informationen zusammen, verglich, hinterfragte, setzte erneut und schaute, weshalb unser kränkelnder Planet so ist, wie er ist. Ich erkannte Fadenzieher, Milliarden unbewusster moderner Sklaven, wuchernde Verstrickungen, Abhängigkeiten und letztlich auch hinter jeder rationalen als auch irrational anmutenden Handlung die mit unglücklichen Spielregeln in die Mitte der Menschen platzierte Erfindung des Geldes. Die Kenntnis von unserer über Leichen gehenden, blind voranstürmenden, turbokapitalistischen Gesellschaft [siehe auch], von gedankenunterbindender Dauerhektik, von materiellem Streben als einzige Lebensessenz [siehe auch], von Lügen, grenzdebilder geistiger Inhaltslosigkeit und Banalität [siehe auch], von Heuchlereien und falschen Fuffzigern, um ein möglichst beneideter, angehimmelter Teil der Gesellschaft zu werden; und dies durch alle Lebensbereiche und sozialen Schichten reichend; nun, dies alles führte wohl unter anderem zu meiner gegenwärtigen Verbitterung. Und zur daraus resultierenden, von Zeit zu Zeit aufkeimenden, endgültig fatalen Hilflosigkeit.
Nichtsdestoweniger stellt Verbitterung nur einen kleinen Bestandteil meines, ich behaupte einfach mal frei heraus, komplexen Wesens dar. Neben meines bewusst herbeigeführten Selbstmordversuchs mit spontaner Änderung des einstudierten Handlungsstranges gegen das wortwörtliche Ende prägten auch andere emotionale Einschnitte bleibend [siehe auch]. So übergoss sich vor bald eineinhalb Jahren ein mir nahe stehender Freund, welchen ich nach langer Abstinenz endlich wieder vor Ort besuchen konnte, mit Benzin, steckte sich an und erlag kurz darauf seinen ganzkörperlichen Verbrennungen [siehe auch]. Vom einen auf den anderen Moment ward ein Leben ausgelöscht. Respektive eigentlich mehr denn je in Flammen stehend, doch lasse ich diese kleine Unstimmigkeit ausnahmsweise außen vor. Ich war perplex. Geschockt. Im Wachkoma, mit deaktivierten Gefühlen und Empfindungen. Eines Roboters gleich handelte ich in den folgenden Monaten ausschließlich auf logischer Basis bar jeglicher Pause. Erst ein halbes Jahr später gab mein Gehirn gütigsterweise grünes Licht zum Abriss dieser temporären Emotionsbarriere – und ich litt. Litt unter extreme emotionale Reaktionen, unter andauernden Weinkrämpfen, Schlaflosigkeit, Zorn, Empathie, Depression. Unter der qualvollen Zwangsarbeit der Akzeptanz, des Aufbereitens und auch der persönlichen Klärung der Schuldfrage.
Meine Gefühlswelt ist extrem [siehe auch]. In einem Moment die glücklichste Schwuppe auf der Welt, im nächsten ein gebrochener, am Boden zerstörter Junge. Donnerndes Gewitter folgt auf strahlenden Sonnenschein, brüllendes Fegefeuer auf erstarrender Eiseskälte, belebende Brise auf peitschende Stürme. Gefühlsschwankungen meinerseits gehören der Tagesordnung an, selbst die beste aller guten Launen vermag sich in mir durch das Aufschnappen einer zwischen den Zeilen stehenden Information und der sich daraufhin explosionsartig ausbreitenden Gedankengänge samt Einbezug und Abwägung allen bisher erworbenen Wissens in dunkle, einsame Depression zu kehren. Ich bin nachtragend, trage jedoch niemals nach. Kleine Äußerungen anderer Personen, mitunter nicht einmal bewusst von sich gegeben, entfachen unweigerlich ein innerliches Chaos der Gefühle – und stehen oftmals selbst Jahre später noch belastend zwischen mir und dem anderen Charakter. Ohne, dass dieser das auch nur ansatzweise ahnte. Zwar unterließ ich, mich störrisch jenem inneren Auf und Ab entgegenzustellen; führte dieses Verhalten doch unter anderem zu obig erwähnten Suizidversuch. Stattdessen drösel ich die Ursachen meiner Emotionen weitestgehend auf, suche Trost in bereits Erlebtem und in meinem Wissen. Ich wandle gen Einsamkeit, wenn mich danach sehnt, und lasse meinen nahezu allzeit traurigen Emotionen freien Lauf. Manifestiert in stillen Strömen großer Tränen. Dies wirkt ungemein befreiend und fern jeglicher Esoterik reinigend.
Eine Tugend, welche ich mir erst mit hohen eigenen Verlusten aneignete. Meine Schulzeit beispielsweise war eine Epoche des Frustes [siehe auch]. Weder gehörte ich dazu, noch war ich das obligatorische Außenseiteropfer. Nein, ich existierte in den Augen meiner Mitschüler einfach nicht, wurde ignoriert, vergessen, verdrängt. Ich war der schwule, undurchsichtige, leise und dennoch alles hinterfragende Streber und Freund so mancher Lehrer, der sich Tag ein Tag aus durch die Schulzeit langweilte und Sparwitze auf meine Kosten einsteckte. Unterricht respektive die Art und Weise der Unterrichtung, die Engstirnigkeit der Lehrkräfte mit ihrem blinden Vertrauen in die eigene, Jahre zurückliegende Bildung, die politisch kalkulierte und daraus resultierende Starre des Lehrplanes und die stetige gefühlte Furcht vor neuen Erkenntnissen, neuem, dem Lehrplan widersprechenden Wissen; all das frustrierte mich. Zu lehrendes Wissen wurde unzureichend vermittelt, die Leidenschaft des Lernens nicht entfacht; nein. Lehrpläne galt es schlicht und ergreifend kategorisch abzuarbeiten. Vieles ward mir schon bekannt, einiges gar nachweislich falsch oder inhaltlich veraltet; ich wollte selber lernen, recherchieren, verknüpfen und neue Erkenntnisse weitervermitteln. Doch konnte, nein durfte ich dieser ermüdenden, langweiligen Umgebung aufgrund fehlender Rechte der Schüler nicht entfliegen. Gefangenschaft in einer jahrelangen, öden, uninspirierten und unkreativen Pflichtenmühle war die Folge. Ganz abgesehen von der allgemeinen engstirnigen, ländlich und religiös geprägten Mentalität Südostbayerns.
Dabei engagierte ich mich durchwegs, hielt bereitwillig thematisch ungewöhnliche Referate, blieb nach der Schule auf interessante Diskussionen mit diversen Lehrkräften vor Ort und arbeitete, o wie peinlich, redaktionell an der Schulzeitung. Ja Schul- und nicht Schülerzeitung. Ich stellte und stelle auch heute teils unerreichbare Anforderungen an mich selbst, bin perfektionistisch veranlagt, strebe nach Vollendung. Mit dem Bewusstsein, diese niemals erreichen zu können; jedoch versuche ich es immerhin. Scheitere ich oder stellt sich eine beschrittene Vorgehensweise als kontraproduktiv heraus, so wird diese gnadenlos verworfen und fortan eine andere in Angriff genommen. Was – und wer – nicht funktioniert, dem wird meine Aufmerksamkeit entzogen. Friss, oder stirb. Dies stellt Nerven und Mitmenschen extrem auf die Probe, führte meiner Erfahrung nach jedoch letzten Endes doch immer zum erhofften Ziel. Oder gar weit darüber hinaus.
Andererseits zeugt meine Vergangenheit vor meiner Wiedergeburt nach nun zum dritten Male erwähntem Suizid wiederum vom grandiosen Scheitern. Von Rückschlägen, Fehltritten und Planlosigkeit – Letzteres bis in den heutigen Tage. Ich brach Schulgänge ab, beendete Ausbildungen vor ihrer Vollendung, terminierte jahrelang erstrebte Träume, warf wortlos Freundschaften von dannen und scheiterte nicht nur einmal an meiner eigenen Latte. Also, an der zu hoch Angelegten. Sprichwörtlich gemeint. Ich wusste nie, wohin ich gehöre, und weiß dies auch gegenwärtig noch nicht. Wie ein kleiner Junge, der sich ohne führender Hand nackt inmitten einer endlosen, trostlosen, von dichten Nebelschwaden eingeschlossenen Salzwüste befindet; alleine, einsam, verloren, zitternd mit traurigen Augen, hauchendem Atem, innerer Finsternis und eisigem Herzen; so fühle ich mich bisweilen. Ein Lebensziel fand ich bis dato nicht, ebensowenig einen in der momentanen Welt zu verwirklichenden Lebenstraum. Was ich tat und tu, privat wie beruflich, beherrsche ich zwar; aber es erfüllt mich nicht, ist nicht das, was sich – so trivial dies auch klingen mag – richtig anfühlt. Ich bin ein Suchender ohne Weg und Ziel, hilflos, verzweifelt.
Und heimatlos. Seit Anbeginn meiner Pubertät, der zahllosen, unbeantworteten Fragen, des geheimen Wissens ob meiner Homosexualität ohne eines Trost und Kraft spendenden Ansprechpartners, meiner emotionalen und schulischen Scharmützel, ja meines gesamten Erwachsenenwerdens fühlte ich mich fremd. Fern jeglicher Geborgenheit, jeglicher Wärme, jeglichen Rückzugsortes. In den letzten Jahren hurte respektive reiste ich daher vermehrt durch unser Land, lernte Städte, Menschen und das Leben per se kennen, schätzen und bisweilen lieben. Ich entdeckte gar die sehnlichst erwünschte Geborgenheit, fand Trost, Liebe und Wärme [siehe auch]. Jedoch nach wie vor keinen Ort, welchen ich aus vollem Herzen heraus als meine Heimat bezeichnen könnte. Ich bin ein Reisender, ein Wanderer, ein extremer Krony, doch zum Glück nicht mehr alleine auf meinem Wege wandelnd.
Denn allen Extremen zum Trotze fand ich in der Liebe mit und um und in meinem Partner einen heimeligen Ort der Konstante. Einen emotionalen Rückzugsort, eine metaphysische Heimat. Einen treuen Mann, der mir zuhört, der mir die Hand reicht, mich tröstet und so manche depressive Phase liebevoll in harmloses Glitzer auflöst. Der mich selbstredend auch hart ran nimmt und ich wiederum ihn, denn auch mein Sexualverhalten ist in mancherlei Hinsicht extrem ausgeprägt, aber das ist in diesem Fall ausnahmsweise gut so. Zugegeben, unser Zusammenleben fällt wie Eingangs erwähnt nicht immer leicht, keineswegs, ein extremes Wesen lässt sich nun einmal weder bändigen, noch fesseln – zumindest charakterlich 😉 – oder gar von heute auf Morgen verformen. Und doch änderten sich an jenem Tag, als mein geliebter Mann in mein Leben trat, viele meiner eigenen – technisch ausgedrückt – Umgebungsvariablen ins Positive. Ich erhielt nun einen Lebensmittelpunkt, für den es sich zu leben und kämpfen lohnt. Der kleine junge Krony steht nicht mehr alleine in der Wüste. Ich übernahm trotz meines kindischen Wesens Verantwortung und Fürsorge, darf Sicherheit und Knuddeleinheiten bieten, Freunden sowie Ängste teilen und das Leben samt seinen undurchsichtigen Herausforderungen und Rückschlägen mit ihm gemeinsam bestreiten.
Ich fand eine stabile Basis für eine extreme Persönlichkeit inmitten einer extremen Welt in einer extremen Zeit. Und das ist an sich eine ebenso extreme Leistung.
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