Von Feierkultur, Bier und Vinahouse

Von Feierkultur, Bier und Vinahouse

Wenn sich die Sonne nach einem stickig-heißen Tag blutrot gen smoggetränktem Horizont neigt und die Menschen millionenfach aus eiskalt klimatisierten Büros und Geschäften strömen, um auf ihren knatternden Motorbikes gen Unterschlupf zu brausen, dann bricht die Zwielichtära des dolce far niente, des Seelenbaumelnlassens und maßlosen Gaudiums an. Schon von Weitem kannst du ihn dann aus allen Himmelsrichtungen kommend spüren, den harten, innigen Bass; laut, dröhnend und unbarmherzig en­thu­si­as­mie­rend. Er rüttelt deinen Körper durch, zerfickt dein durch Stress und Hektik gemartertes Gehirn, steigert Lust- und Durstempfinden ins unermessliche und rattert wie ein Maschinengewehr Beat um Beat auf dich ein. Ohne Übergang, ohne Pause, die halbe Nacht hindurch – bei über 30 Grad und 80 % Luftfeuchtigkeit. Jupp, nachts bricht die Stunde des Vinahouse an.

Romantik trifft Pragmatismus

Vietnam dürfte zuvörderst für seinen V-Pop bekannt zu sein, einer sanft plätschernden, säuselnden Herzschmerz-Musik, der Bollywood in nichts nachsteht. Die lokale Popmusik dreht sich fast ausschließlich um das Suchen, Finden und Scheitern der großen Liebe; die Seele des vietnamesischen Volks verzehrt sich nach Jahrzehnten, die geprägt waren von steten Unruhen und kriegerischen Handlungen, hin zu einer glückseligen und heilen Welt. Diese Sehnsucht wohnt der gesamten Bevölkerung inne, obgleich der größte Teil des jungen Volkes – das Durchschnittsalter lag 2012 bei 29,4 Jahren, in Deutschland zum Vergleich bei 45 Jahren – die Grauen der Kriege nicht mit eigenen Augen erlebt haben dürfte.

V-Pop trieft vor Schmonzette und Romantik; entsprechende, aus Neugier geborene Interessensbekundungen könntest du dir bspw. kurzerhand mittels dieser stets aktuell gehaltenen Top-Hits-Playlist auf Spotify befriedigen, auch wenn jene Wiedergabeliste ein einigermaßen verzerrtes Bild der Charts widerspiegelt, da die wenigstens Vietnamesen das kostenpflichtige Spotify nutzen und stattdessen auf kostenfreie Alternativen wie YouTube oder Zing MP3 zurückgreifen.

Nun gehört es zum guten Ruf eines jeden V-Popsternchens, nebst der melodisch geträllerten Originalversion eines Songs auch einen Vinahouse-Remix für all die unzähligen Cafés, Restaurants und Beer-Locations darzubieten – und weniger für den klassischen Rundfunk, der auch in Vietnam innerhalb der letzten Jahre signifikant an Bedeutung verlor. Vietnamesen sind in vielerlei Belangen pragmatisch veranlagt: Nicht der Weg zum Ziel zählt, sondern das Erreichen ebenjenes – gleich wie. Und wenn sich eine Idee als erfolgreich herausstellt, wird sie kurzerhand adaptiert und endlose Male dupliziert. Auswüchse hiervon zeigen sich im Einzelhandel größerer Städte, welche gespickt sind mit thematisch fokussierten Straßen wie der Gitarren- und Ukulelenstraße, der Netzwerkkabelstraße oder der Marmorstatuenstraße, in denen sich Geschäft an Geschäft mit ein und denselben Produkten und Preisen reihen. Im Falle der Gitarrenstraße zählte ich zuletzt ~17 Verkaufsstätten. Und just jener kapitalistisch veranlagte Pragmatismus spiegelt sich auch in der vietnamesischen Musik wieder, in der vermutlich in grauer Vorzeit irgendein Pop-Interpret imponierende Erfolge mit einer gemixten Version seines Songs einheimsen konnte und seither jeder konkurrierender Musiker versucht, diesem Erfolg beflissen nachzueifern. Jeder machts, da es jeder macht.

Biergetränkte elektronische Tanzmusik

Neben Tausender und Abertausender Cafés und Eateries stehen Beer Zones hoch im Kurs, gesellige Locations unter zumeist freiem Himmel, in denen bei grenzwertig lauter Musik literweise Bier konsumiert und geschlechterübergreifend geflirtet, gelacht und sich mit hingebungsvoller Passion ausgetauscht wird. Wohlgemerkt verbal. In Verbund mit einer schier endlos anmutenden Folge gemeinschaftlich vertilgter Köstlichkeiten.

Ganz anders hingegen Beer Clubs, in denen bei grenzwertig lauter Musik literweise Bier konsumiert und geschlechterübergreifend geflirtet, gelacht und sich mit hingebungsvoller Passion ausgetauscht wird. Weiterhin nur verbal. Indes mit signifikant weniger Kulinarik, dafür beträchtlich erhöhtem Bierkonsum – gerne auch aus Beer Towern, um derart angeheitert auf endlosen musikalischen Höhepunkten durch den Abend zu reiten und noch vor Mitternacht trunken nach Hause zu taumeln (respektive, per Motorbike zu fahren, ahem). Vietnamesen zelebrieren gleichwohl mitnichten seichte mallorquinischen oder santacruzianischen Saufkultur, auch wenn sie außerordentlich trinkfest sind und demzufolge ordentlich was einstecken können. Nein, die hiesige Mentalität lässt ausgelassenes Grölen oder gar irgendeine Form aggressiven Verhaltens schlicht und ergreifend nicht zu, hierauf drohten schließlich teils drakonische Strafen und ein nachhaltiger öffentlicher Ansehensverlust (aka Gesichtsverlust), einhergehend mit dem bitteren Nachgeschmack der blanken Scham. Eines Empfindens, das meine Wenigkeit in westlichen Kulturen zutiefst vermisst.

Die Luft ebendieser feierfreudiger Örtlichkeiten ist geschwängert von besagtem Vinahouse. Von markerschütternden Tracks mit immerselben Takt, welcher die heißen Körper der durstigen Kundschaft mit bis zu 140 Beats pro Minute durchwalkt. Jeder Song scheint dem Darauffolgenden aufs Haar zu gleichen; sie verfügen über denselben Aufbau, dieselbe Geschwindigkeit und denselben Rhythmus. Und sind vor allem eines: elektrisierend. Vinahouse lädt zum Loslassen ein, spornt zum Trinken an und fordert von Zuhörern bisweilen ergebenste Tribute von Rausch, Ekstase und Begierde ein; mindestens jedoch alle Sorgen und Probleme des täglichen Lebens für einen Moment zu verdrängen und gemeinsam die guten Seiten des Lebens zu zelebrieren.


Handerlesene Vinahouse-Playlist (Spotify)


Im Wandel begriffen

Vinahouse ist eine noch recht junge musikalische Subkategorie, dessen Wurzeln sich in den ersten Underground-Bewegungen Mitte der 1990er-Jahre in Ho Chi Minh City verorten lassen. So richtig an Fahrt nahm sie erst in den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts an und befindet sich seither im steten evolutionären Wandel. Zwar klingen die meisten Songs in der Tat frappierend ähnlich, doch entwickelt sich die Gesamtheit des Vinahouses parallel mit den rasanten Veränderungen hinsichtlich Wünschen, Werten und Bedürfnissen der vietnamesischen Gesellschaft und nicht zuletzt durch das zunehmende Durchschnittsalter (welches auch Vietnam in absehbarer Zukunft vor großen sozialen Herausforderungen stellen wird) inkrementell weiter. Wie jede Musikrichtung unterliegt auch Vinahouse jährlich wechselnden Trends, mitunter werden verstärkt Versatzstücke westlicher Housemusik zitiert, dann wieder folgen Phasen intensiven Synthesizer-Gebrauchs, Jahre mit vermehrtem Fokus auf Gitarrengeplänkel und Zeiten mit ausgeprägtem Basseinsatz. Allen gemeinsam ist die im Vordergrund stehende Melodik des Ursprungsliedes – und deren unverfälschter Gesang. Auch im Vinahouse dreht sich alles um die Liebe und das gute Leben.

Mögen die Songs für geschulte Ohren bisweilen einfältig oder gar trivial klingen, so sind sie aus dem lokalen Kontext betrachtet technisch wie qualitativ auf der Höhe ihrer Zeit. Westliche Musikkonsumenten wuchsen in der Regel mit einer breiten Palette etablierter Housemusik und daran angelehnter Genres auf und damit in ein definiertes akustisches Muster hinein, in Vietnam indes existierten in der Vergangenheit praktisch keinerlei Berührungspunkte damit. Daher ist hier noch alles neu, unverbraucht und aufregend.

Es bedient eine im Angesicht des übermächtig wirkenden V-Pops winzige Enklave, doch erfreut sich wachsender Beliebtheit bei jung und durchaus auch alt. Und ist omnipräsent – so scheint es beim Durchqueren der Städte nahezu unmöglich, Vinahouse-Geplänkel aus dem Weg zu fahren; es läuft nicht nur in besagten Beer Zones und Clubs rauf und runter, sondern auch mitunter ganztägig in unzähligen Eateries, Convenience Stores und sonstigen Geschäften des täglichen Bedarfs, die ihre überdimensionierten und nicht allzu selten übersteuerten Lautsprecher direkt auf den endlosen Motorbike-Mahlstrom der überfüllten Straßen gerichtet haben. Die akustische Anpreisung mancher Geschäfte vermag einem beim Vorbeifahren fast vom Roller zu pusten. Lärmschutz ist in Vietnam ein Fremdwort, Stille ein Luxusgut. Doch auch das wird sich angesichts des rasanten Wachstums und Wandels des Landes mittelfristig ändern.

Würmer für die Ohren

Angefixt? Auf YouTube findest du unzählige Vinahouse-Songs, Livemitschnitte und wild kuratierte Playlists vor, die zum Stöbern, Entdecken und heimlichen Zelebrieren einladen – und natürlich existiert auch auf Spotify eine wachsende Zahl alter wie neuer Vinahouse-Playlists unterschiedlichster Interpreten, die sich hierüber zaghaft einem internationalen Publikum eröffnen, um dieses an der vietnamesischen Feierkultur teilhaben zu lassen und tropisch angehauchte Vibes einträchtig rund um den gesamten Globus zu streuen. Peace out & một, hai, ba, dzô ?

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