Haiti nach dem Beben: Ein Staat ohne Macht

Haiti nach dem Beben: Ein Staat ohne Macht

Nach dem vernichtenden Beben auf Haiti folgte prompt das zweite Beben, dessen Ausmaße betreffend das haitianische Beben in den Schatten stellend: Das mediale Beben. Weltweit stand für Tage nichts anderes auf dem Nachrichtenplan als das Erdbeben in Haiti. Milliarden Menschen ergötzten sich an der humanitären Katastrophe und heuchelten Betroffenheit vor, insgeheim glücklich darüber, selber nicht betroffen zu sein. Haiti stand im Fokus der Weltöffentlichkeit. Vor allem deutsche Medien – allen voran die Bildzeitung – posaunten apokalyptische Schlagzeilen wie Killer-Beben – Haiti, das unglücklichste Land der Welt oder Erdbebenhölle Haiti – Regierung: Horror-Beben forderte 300 000 Todesopfer heraus. Doch den Medien liegt es nicht daran, dem Konsumenten Informationen zu bieten. Nein, was zählt, ist einzig und allein der unter dem Strich resultierende Gewinn. Solange sich die Bevölkerung für eine Katastrophe interessiert, wird darüber berichtet. Sobald das Interesse nachlässt – vielleicht aus purer Langeweile oder weil an einem anderen Ort der Erde eine neuere, interessantere Katastrophe passierte – ziehen sich auch die Medien zurück. Und das betroffene Land versinkt im Chaos und der medialen Bedeutungslosigkeit. Oder hast du zuletzt aussagekräftige Nachrichten aus Haiti gehört?

Tatsächlich forderten die Erschütterungen vom 12. Januar 2010 um 16:53 über 220.000 Opfer. Millionen Haitianerinnen und Haitianer sind obdachlos geworden, die Hauptstadt Port-au-Prince gleicht nach wie vor einer Trümmerlandschaft. Kaum ein Stein steht auf dem anderen. Mehr als drei Millionen Menschen in Haiti – das sind knapp ein Drittel der haitianischen Gesamtbevölkerung – sind unmittelbar von dem Beben betroffen. Es herrschen Chaos und Verzweiflung.

Doch die Auswirkungen des Erdbebens ziehen auch in anderen Bereichen große Kreise: Fast alle Regierungsgebäude, Behörden und Krankenhäuser stürzten während des Bebens wie Kartenhäuser in sich zusammen, eine öffentliche Staatsgewalt existiert quasi nicht mehr. Nicht nur, das viele Minister des haitianischen Parlaments und ein großer Teil der Verwaltungsbeamte in den Trümmer ums Leben kamen, auch Schulen, Polizei oder gar das Militär wurden extrem in Mitleidenschaft gezogen. Der haitianische Staat – der sich in der Vergangenheit schon immer als besonders anfällig und schwach herausgestellt hat – ist kaum noch präsent. Haiti wird nur noch pro forma aus einem provisorischen Präsidentenbüro in einer einfachen Polizeistation in der Nähe des Flughafens bei Port-au-Prince regiert. In der Realität haben mittlerweile die USA mit ihren Streitkräften das Regiment übernommen. Eine Regierung, die aus einem einfachen Betonblock außerhalb des Regierungsbezirkes regieren will, in einem Land, das von einer ausländischen Macht verwaltet wird mit einer nicht mehr existierenden Wirtschaft, steht vor dem Bankrott. Hingegen regieren Macht- und Fassungslosigkeit das Land.

Gefängnisse wurden durch das Beben auch zerstört, die meisten Gewaltverbrecher sind entweder tot oder befinden sich auf freiem Fuß. Da durch die chaotischen Zustände eine oberste Direktive fehlt, greift die örtliche Polizei immer öfters zur Selbstjustiz: Es wurden Berichte über Ausschreitungen und regelrechte Hinrichtungen am hellichten Tage und mitten unter den Menschen veröffentlicht. Das Chaos greift dieser Tage um sich; rivalisierende Gangs in Port-au-Prince versuchen, das Machtvakuum für sich selber auszunutzen. Trotz der 11.000 US-Soldaten und UNO-Blauhelmsoldaten.

Denn diese sind nach wie vor damit beschäftigt, die wichtigsten Einrichtungen wieder aufzubauen und vor allem Nahrung und ausländische Hilfslieferungen unter den Einwohnern zu verteilen. Lebensnotwendige Dinge, die nach wie vor ungleich verteilt werden. Daher herrscht in den Straßen der Stadt tagtäglich der Kampf um das nackte Überleben vor. Nicht überall, es gibt natürlich auch positive Nachrichten zu vermelden. Aber der Mehrheit der Haitianer werden diese in diesem Moment wohl nicht weiterhelfen.

Was nun in der nächsten Zeit ansteht ist auf der einen Seite der komplette Wiederaufbau von städtischen Einrichtungen und natürlich den Stadtgebäuden an sich. Auf der anderen Seite laufen bereits Planungen für ein komplett neues Regierungsviertel, die “gigantische Katastrophe” wird dazu benutzt, alte Strukturen zu überarbeiten und zu optimieren. Der Wiederaufbau wird voraussichtlich bis zu 10 Jahre in Anspruch nehmen und viele Milliarden US-Dollar kosten. Vielleicht ändert sich durch die Katastrophe auch in der Mentalität der Minister und Politiker etwas, das Land hätte Umstrukturierungen bitter nötig.

Denn Haiti gilt und galt sowohl heute als auch vor dem großen Beben als eines der ärmsten Länder der Welt, das Land wurde in den letzten Jahrzehnten wiederholt durch Staatsstreiche, Diktaturen, gewalttätige Konflikte und vor allem durch die Verletzung von Menschenrechten gebeutelt. Seine Strukturen waren instabil und die Wirtschaft unterentwickelt – unter anderem durch die ausufernde Korruption, mangelnde Strafverfolgung, Wahlbetrug, kriminelle Banden, Drogenhandel und der allgemeinen Gewaltbereitschaft.

Menschen lernten bisher immer aus Katastrophen und änderten anschließend etwas grundlegend – auch wenn es in manchen Fällen mehrmaliger Katastrophen bedarf. Die meisten Unheile zogen aber eine allgemeine Weiterentwicklung der Gesellschaft und Mentalität der Menschen nach sich. Hoffen wir, dass es dem haitianischen Land und dem Volk ebenso ergehen wird und dass ein weiteres Beben durch das Land geht, ein gesundes Beben der Gesellschaft, des Wiederaufbaus und des positiven Willens – ich wünsche es ihnen von ganzen Herzen!

Ein Kommentar

  1. Schaeuble

    Die medien berichten auch nur mit Worten über das Leid der Menschen. Wem auch immer die Schuld an diesem Beben gilt, es kann nicht rückgängig gemacht werden, tot ist tot. Die Überlebenden kämpften nun ums Überleben. Das was wirklich dort los ist, das zeigen die Medien nicht. Was eigentlich ihre Aufgabe wäre, nicht anders kann ich mir erklären, dass kleine Kinder, die auf den Bus warten, Witze wie: “Wie viele Einwohner hat Haiti? – 5 und ein paar Zerquetschte.” machen.

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